Die Lügenpresse am Tag des Lügenmarsches

„Lügenpresse“ ist Unwort des Jahres. Richtig so. Ich persönlich kenne – und ich übertreibe nicht –  ausschließlich gewissenhaft arbeitende Kollegen, die sich mit einer Sache nicht gemein machen. Egal, für wie richtig sie ihnen auch subjektiv vorkommen mag.

Die Solidarität wurde mit Statisten nachgestellt?

Und jetzt das. Statt mit 1,5 Millionen Menschen in Paris durch die Straßen zu ziehen – wie von wohl jeder Zeitung, jedem Radio- und Fernsehsender gemeldet -, waren die Staatschefs nur wenige Meter vereint, so berichten es gestern Nacht erste Zeitungen. Ein Fake – für die Botschaft? Die Solidarität mit den trauernden Bürgern wurde mit Statisten nachgestellt?

Vielleicht bin ich zu sensibel, aber so sehr ich mich über diese Geste am Sonntag gefreut habe, so sehr enttäuscht mich deren Fake. Nein. Es ist größer. Er erschüttert mich.

Spielt mir dieses schöne Bild nicht vor.

Ich verstehe sofort, dass die Sicherheit für 44 Regierungschefs in einem kilomterlangen Trauermarsch nicht zu gewährleisten ist. Natürlich nicht. Aber warum stellt man sie dann nach? Stellt sie doch in einen Kreis, lasst sie einander bei den Händen fassen und auf den Boden gucken. Setzt sie doch hinter Glas auf den Place der Republique – für 15 Minuten. Oder sorgt für ein Bild romantischen Ausmaßes an einem Kranz, Feuer, am Tatort oder in einem geschlossenen Saal. Aber spielt doch bitte das vermeintlich schönere Bild nicht vor.

„Wo ist das?“ und „Wann war das?“

Ich verstehe so etwas nicht. Und dabei sind die Umstände, wie die Bilder entstanden sind, für mich nur ein Punkt von zweien. Der zweite Punkt ist für mich gravierender. Wie konnten sich Journalisten zum Teil dieser Schau machen? Die, die das Bild machten, filmten und darüber schrieben? Wie konnte jede Redaktion es in einem „Wir sind Charlie“-Rausch übernehmen, ohne die obligatorischen Fragen zu stellen: „Wo ist das?“ und „Wann war das?“ Hier haben Politiker und deren Berater versagt, als sie auf die Idee kamen. Hier haben Journalisten vor Ort versagt, weil sie die Bilder mindestens unkommentiert verbreiteten und diese Fehlschlüsse zuließen, vielleicht sogar logen. Hier haben Redaktionen versagt, weil sie keine Fragen mehr stellten.

Die wahren Journalisten sind nun die twitternden Anwohner?

Auch ich bin Charlie. Wir alle sollten Charlie sein. Es ist und bleibt der erste große Anschlag auf die Pressefreiheit. Wie ironisch sind dann bitte dieses Bild und seine Geschichte? Vielleicht waren die wahren, freien Journalisten die twitternden Anwohner, die jetzt die Obenansicht der Fotomontage zeigen.

Und das an dem Tag, an dem „Lügenpresse“ das Unwort des Jahres wird. Ich hätte die Wahl der Jury gern lauter gefeiert.