„Ohne Worte, ich bin so sprachlos – Gefällt Euch das?“

Ein Flugzeugabsturz. Und ich habe gestern nichts dazu geschrieben – nicht bei Facebook, nicht bei Twitter. Ja, ich war das.

Diese Tweets und Posts – mir ist selten so übel geworden.

Im ersten Moment wollte ich es, das war wie ein Reflex. Zwei Zeilen schreiben vielleicht, Beileid aussprechen, Trost und Stärke wünschen. Es gibt nur ein Problem. Man muss auf dem Weg zum eigenen Post oder Tweet an den Äußerungen der anderen vorbei. Mal einen Blick auf das werfen, was sich dort tut. Und mir ist selten so übel geworden.

Um zwei Dinge klar zu sagen, bevor ich haarsträubende Beispiele nenne:

  1. Dies ist keine Kritik, öffentlich auch um Menschen zu trauern, die einem persönlich unbekannt sind. Wir sind Menschen. Wir machen das. Wir haben in digitalen Netzwerken neue Möglichkeiten bekommen und nutzen sie. Gemeinsam Erlebtes schweißt zusammen – in guten und in schlechten Zeiten. Ich kritisiere auch nicht die Bilder. Massenphänomene brauchen gemeinsame Zeichen. Mal sind es Worte, mal die Deutschland-Fahne bei einer WM, mal ein schwarz-weißes Logo oder eine schwarze Schleife als Profilbild. Daran ist nichts zu kritisieren. Das sind Dynamiken seit Jahrtausenden, die wir nun auch online erleben. Wenn es um Trauerarbeit geht, ist alles erlaubt. Keiner muss sich fragen, ob es seine Aufgabe ist, sich öffentlich zu äußern. Er schreibt einfach und fühlt sich besser. Und das ist gut so.
  2. Dies ist mal keine Medienkritik. Man sollte den gestrigen Tag gern diskutieren, den sehr schnellen, manchmal unreflektierten Journalismus noch aufarbeiten. Fehler – so meine Sicht – wurden weniger gemacht als in vielen Fällen zuvor. Stürzt ein Flugzeug ab, will ich keine Angehörigen weinen sehen, aber natürlich erwarte ich einen Übertragungswagen am Zielflughafen. Natürlich will ich von einem Experten etwas zum Flugzeug-Typ erfahren, es darf auch mal eine mögliche Ursache genannt werden, die noch nicht behördlich festgestellt wurde. (Die Möglichkeit eines Attentats wurde im Übrigen nur sehr spät und am Rande erwähnt und gehört heute zur Vollständigkeit.) Und natürlich muss es Sondersendungen auf allen wesentlichen Sendern geben, speziell in Nordrhein-Westfalen. Dieselben Kritiker hätten sie verlangt, wäre es im Programm bei Küchenschlacht, Rote Rosen oder Eisbär, Pinguin und Co. geblieben. Das alles soll und muss woanders aufgearbeitet werden.

War Beileid immer das einzige Motiv?

Gestern zeigte sich etwas Neues, das jeder nur für sich aufarbeiten kann. Und es geht um Motive für Posts von mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten, die vielleicht über Beileid hinausgehen.

  • Eine junge Journalistin erfindet die Sprachlosigkeit neu, ihr bliebe „alles im Halse stecken“. Auf deutsch. Auf englisch. Auf spanisch. Alle wichtigen Hashtags sind vergeben. Ihre direkt hintereinander abgesetzten und wunderbar zitierbaren Tweets könnten es sogar in spanische Zeitungen schaffen, übersetzt sind sie bereits. Viel Glück! Das wirkt so absurd, dass ich mein Handy kurz weglege: Sie ist sprachlos – in gleich drei Sprachen!
  • Der Tatort-Schauspieler twittert, er denke an die Passagiere und „halte heute mal die Klappe“. Hashtags hat er – wie alle – nicht vergessen, damit sein Schweigen nicht untergeht. 907 Menschen applaudieren.
  • Eine Radiomoderatorin fühlt sich noch am Abend präsidialer. Sie wendet sich direkt an die Mitschüler von Haltern. Wünscht ihnen ganz persönlich „viel Kraft morgen in der Schule“. Sie ahnt sicher, dass keiner ihrer Follower Schüler in Haltern ist. Aber sie hat Glück, ihr Sender retweetet.
  • Kollegen schreiben, dass auch sie jetzt in einen Flieger steigen werden, diese Flugverbindung schon oft nutzten, sogar selbst „fast“ in „genau diesem“ Flugzeug gesessen hätten. Sie holen das Unglück von Menschen zu sich. Sie scheinen das Beileid der Online-Gemeinde auf sich ausdehnen zu wollen. Wie würde es ihnen, den vielen Fans, erst gehen, wäre er oder sie das Opfer gewesen? Unvorstellbar, oder?
  • Ein sonst sehr stilsicherer Kollege zeigt seine Überforderung anders. Er kann sich gar nicht mehr für einen Weg entscheiden: Er unterstellt anderen, aus diesem Leid Klick-Erfolge zu machen, dann hat er die zündende Idee. Er stiftet selbst einen pathetischen Satz, auf dass er sich stark verbreite, pöbelt aus heiterem Himmel gegen andere, um am Ende einen wieder umarmenden Kalenderspruch nachzulegen. Nun scheint er genügend Pferde ins Rennen geschickt zu haben. Es wäre doch verhext, wenn davon keins das Ziel erreicht.
  • Ein bekannter deutscher Quizshow-Moderator schweigt überraschend lang, teilt mal einen aktuellen Bericht, hält sich sonst zurück. Ich merke, wie ich mich innerlich bei ihm entschuldige, auf seiner Seite nach widerlichem Pathos zu suchen. Dann die Auflösung: Dreharbeiten, er komme jetzt erst „zu mehr“ und entschließt sich vor dunklem Hintergrund im schwarzen Hemd doch noch zu einer Rede an die Nation. Nach dem Satz „Ihr wisst, Ihr Lieben, wie oft ich selbst fliege“ schluckt er bedeutungsvoll, „Fliegen wird nie wieder so sein wie es war“ – ich schalte ab.

So könnte ich aus dem Stand noch sieben weitere Beispiele nennen, stoppe hier aber und bemerke: Was eigentlich, wenn ich den Fehler gemacht habe gestern?

Langsam bekomme ich ein mulmiges Gefühl. Hätte ich auch mein Beileid aussprechen sollen, Trost und Stärke wünschen? Wird das von Personen (gerade von öffentlichen) erwartet, wenigstens zwei Zeilen? Muss ich das lernen? Und das meine ich nicht ironisch, will nicht belehren, nicht vorführen, nicht allen alles unterstellen. Ich will das wissen. Sie alle werden ja behaupten, aus Respekt zu schreiben. Aber aus Respekt zu schweigen – geht das noch?

Einige meiner Kolleginnen und Kollegen werden den gestrigen Tag heute nacharbeiten. Aber anders, als ich es mir wünsche. Sie werden heute fieberhaft suchen, welches eigene Zitat es in die Süddeutsche geschafft hat, welches auf Spiegel Online… Welcher Schauspieler, Moderator, Musiker hat es weiter geschafft als sie… Ja, auch so ist der Mensch wohl.

Beim nächsten Mal wünsche ich mir, dass diese Kollegen vor ihrem Post und Tweet kurz mit lieben Menschen sprechen. Sie sollen ihnen laut vorlesen, was sie gleich online schreiben wollen. Und wenn diese Menschen ihnen sensibel beibringen: „Glaubst Du, die Menschen warten jetzt auf diesen Satz von Dir?“ – dann rate ich, die digitalen Netzwerke einfach mal zu vergessen und etwas zu tun, was weniger Likes, aber bestimmt die schöneren bringt:

Die eigenen Angehörigen mal in den analogen Arm zu nehmen.